Gedanken zu den Lesungen des 2. Sonntag im Advent

Was für ein Ausspruch, liebe Adventsgemeinde von Borstel, was für ein Ausspruch: „Himmel und Erde werden vergehen – aber meine Worte vergehen nicht.“ Solche Aussprüche bedürfen eines Anlasses. Eines großen Anlasses. Ich bitte Sie – parken Sie diesen Gedanken kurz.

Vor einigen Jahren war ich in einem Adventsgottesdienst, in dem der Pfarrer in seiner Predigt von der Apokalypse des Advents sprach. Apokalypse? Advent? Diese besinnliche, aber leider auch manchmal zu laute, hektische Zeit? Vorbereitung auf Weihnachten, Glühwein, Plätzchen backen, Wohnungen und Häuser dekorieren, jedes zweite Essen schmeckt irgendwie nach Zimt? Adventslieder, die von der Geburt Jesu erzählen, mal freudvoll, mal besinnlich, „Tochter Zion“, „Macht hoch die Tür“, von mir aus auch die „Weihnachtsbäckerei“ – Apokalypse?

Tatsächlich ist es so, dass die Lesungen der vier Sonntage im Advent nicht etwa die letzten vier Wochen der Schwangerschaft Mariens beschreiben. Am 1. Advent hören wir als Evangelium die Geschichte des Einzugs Jesu in Jerusalem – also die Palmsonntagsgeschichte. Das hat wenig mit weihnachtlicher Vorfreude zu tun. Und wenn wir heute Jesu Worte hören und darüber nachdenken, dann sind auch diese Worte, die der Evangelist Lukas aufgeschrieben hat, unmittelbar vor dem Verrat Jesu durch Judas zu finden. Die Hinrichtung Jesu hatte für seine Anhänger durchaus eine apokalyptische Dimension. „Himmel und Erde werden vergehen – aber meine Worte vergehen nicht“ – das sind Worte des Abschieds.

Erinnern Sie sich noch an den geparkten Gedanken? Solch salbungsvollen Worte benötigen einen Anlass. Gut.

Was für ein Anlass haben wir in der alttestamentarischen Lesung gehört? Verzweiflung. Pure Verzweiflung. Wie verzweifelt muss der Autor dieser Zeilen gewesen sein. „So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung.“ – Der Himmel möge zerreißen, die Berge mögen zerfließen, man stelle sich das einmal vor, das ist mehr als das, was Anfang der 2000er Jahre geschah als die Elbe über die Ufer trat, das ist mehr als die Zerstörung, die wir dieses Jahr im Ahrtal gesehen haben. Das ist eindeutig Apokalypse! Wahrhaftige Endzeitstimmung. Und warum? Damit Gottes Name kundwürde und seine Feinde erzitterten, weil Gott so gut ist, so gut wie noch kein Ohr gehört und kein Auge gesehen hat? Zunächst ein Rätsel – warum das dem anonymen Schreiber so wichtig ist. Gott, ja, wenn ihm das wichtig wäre – aber er ist es nicht, der diesen Anspruch stellt.

Ich bewundere diese Dialogfähigkeit des Alten Testaments. Gleichwohl Gott als göttlich behandeln und dennoch die Auseinandersetzung nicht zu scheuen, Forderungen zu stellen, bei aller Ehrfurcht.

Von Gottes großer Güte zu erzählen, seinen Namen kund werden zu lassen, das hat für unseren Verfasser der alttestamentlichen Lesung eine überragendeBedeutung, ein bisschen so, wie wenn wir einen unserer Meinung nach großartigen Gedanken haben, den wir unbedingt verbreiten müssen, Ehepartner, Freunde. Unser Autor ist der festen Überzeugung: Wie gerecht könnte die Welt gestaltet werden, wenn sich die Menschen zum Gott Israels bekennen würden – der so wohltut allen, die auf ihn harren.

Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn er diese Worte gekannt hätte: „seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ „Sieh auf, erhebe dein Haupt, weil sich deine Erlösung naht.“ Aber zwischen unserem Text aus dem Alten Testament und den Worten Jesu liegen schätzungsweise über 500 Jahre. Aber diese Ungeduld, diese Verzweiflung, die ist doch nachvollziehbar. Gehen wir mal davon aus, dass dem verzweifelten Schreiber die Worte des Propheten Jesaja bekannt waren: „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Er wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein.“ Diese Friedensvision, diese Gerechtigkeitsvision – sie scheint in so ferner Zukunft zu liegen, daher: große Verzweiflung. Große Worte.

Da ist unser Evangelium wie eine Antwort: „es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen.“ – Das ist eine direkte Antwort auf das Flehen aus dem Alten Testament, auf den Wunsch, die Forderung, dass der Himmel zerreißen und die Berge zerfließen mögen. Wir stimmten vorhin in dieses Klagen, in dieses Flehen mit ein, erinnern Sie sich? O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf.“ So brav diese Melodie auch ist – das ist Revolution! Dagegen ist der Text von „Macht hoch die Tür“ regelrecht artig. Aber hier – Anklage, Revolution, Flehen, Forderungen, alles in einem.

Was hat das nun alles mit uns zu tun, in der heutigen Zeit. Wie sollte es anders sein – eine ganze Menge. Denn was im Großen gilt – die vermeintliche Abwesenheit Gottes im Bewusstsein der Menschen – gilt auch für uns persönlich. Verzweiflung, Klage, das ist uns doch nicht fremd! Endzeitstimmung auf Grund verschiedenster Einflüsse, politisch wie privat. Unsere eigenen, nur scheinbar kleinen Verzweiflungen sind keine Banalitäten! Sie quälen uns und indem wir sie klein machen („es ist doch nur …“), nein, dadurch wird es in der Regel nur noch schlimmer. Der Anruf, den ich mich nicht traue zu machen mit einem Freund nach einem Streit. Das Kind, das ich schon so lange nicht mehr gesehen habe, das ich vermisse. Das Geld, an dessen Ende noch so viel Monat übrig ist. Den Menschen, der aus dem Leben geschieden ist, dieses Loch, das er gerissen hat, dass sich einfach nicht füllen will.

Immer wieder empfinden Menschen die Abwesenheit von Gerechtigkeit und wie wohltuend sind da Jesu Worte: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ Das sind keine leeren Worte. So unkonkret sie sein mögen – so wahrhaftig sind sie. Der Mann spricht diese Worte kurz vor seiner Hinrichtung. 

„Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar.“ Dietrich Bonhoeffer, weniger als ein halbes Jahr vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten. Auch unkonkret, aber mit so viel Gehalt.

Es ist diese Ermutigung, die wir benötigen. Es ist diese Ermutigung, die die Menschen einer Stadt benötigten, als ein 46-jähriger amerikanischer Präsident ihnen zusprach: „Ich bin ein Berliner.“

Es ist diese Ermutigung, wenn ein schnurrbärtiger Liedermacher und Lyriker den in den Begrenzungen der Unfreiheit und den Grenzen ihres Landes eingesperrten Bürgern zusingt: „Du lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.“

Aber es gilt auch: „Seht auf und erhebt eure Häupter damit sich eure Erlösung naht.“ Der gesenkte Kopf mag in Situationen die einzig erträgliche Haltung sein. Aber mit ihm schaut man weder nach vorne noch einander an. Im eben erwähnten Lied „Ermutigung“ heißt es etwa weiter: „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit. Du kannst nicht untertauchen, du brauchst uns und wir brauchen grad deine Heiterkeit.“

Die schwerste Übung versteckt sich in den drei Sätzen unser sehr kurzen Epistellesung. Wann geschieht das denn alles? Haupt gehoben, Verzweiflung eingeordnet, bereit für meine Erlösung, die sich doch naht? „Seid geduldig, wie der Bauer, der sein Getreide auch nicht schneller ernten könnte, wenn er am Halm zöge.“ Diese vermutlich schwerste Übung ist typisch adventlich. Warten. Geduld.

Was nehmen wir also aus diesen Erkenntnissen mit? Leider nichts Konkretes, keine drei Schritte, die ich tun müsste für ein erfüllteres Leben und keine fünf Dinge, die ich für mehr Zufriedenheit einkaufen könnte.

Aber eine Haltung:
1. Verzweiflung ist berechtigt.
2. Das Leben ist nie hoffnungslos.
3. Auch, wenn’s schwerfällt: nicht verzagen. Geduld. Optimismus.

Wenn wir es schaffen würden, diese drei Dinge wirklich zu beherzigen, sähe unser Leben definitiv nicht apokalyptisch aus, sondern bewegte sich in Richtung eines inneren und äußeren Friedens, der höher ist als das, was wir je begreifen und verstehen könnten. Er ist höher als das, was ein Auge je gespürt, ein Ohr je gehört hat – solche Freude. Dieser Frieden bewahre unsere Herzen und Gedanken in Jesus, den wir den Christus nennen.

Amen.

Du, meine Seele, schweige

Gedanken zum Sonntag Kantate im Jahre 2021

Unser Glaube lässt sich einfach nicht beweisen.

Wie einfach wäre er zu erklären, gäbe es heute noch die Wunder, von denen wir in der Bibel lesen. Wenn Gott ein zweites Mal Menschengestalt annähme, wenn es ein Update gäbe, eine Version 2.0. Wir könnten unsere iPhones zücken und es für YouTube festhalten, wie dieser Jesus des 21. Jahrhunderts Wasser zu Wein verwandelt oder für alle sichtbar Kranke nur durchs Handauflegen gesund machen würde. Das wäre doch eine Genugtuung gegenüber all den Zweiflern, gegenüber all den Relativierern und vermeintlich Klügeren.

Wie einfach wäre es, wenn wir einen Ort hätten, an dem Gott für alle Zweifler, das sind nicht zu selten auch wir selbst, sichtbar gegenwärtig wäre, wie ein König auf einem Thron, sichtbar durch Insignien, Diener, Schmuck. Aber dieser Vorstellung macht nicht zuletzt Paulus einen Strich durch die Rechnung in seiner Predigt an die Menschen in Athen: Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Gott wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind – also auch nicht in Kirchen und Kapellen. So sehr sie ihm zur Ehre gebaut worden sind und so wunderschön sie Silhouetten von Städten prägen, so beeindruckend sie auf uns wirken – in erster Linie existieren diese Gebäude für uns, weil für uns Gläubige diese Häuser zu einem Ort werden, an dem wir uns Gott besonders nahe fühlen, wenn wir in ihnen singen und beten, wenn wir Familien- und Glaubensfeste feiern und bei vielen Gelegenheiten mehr.

In der traumhaft schönen und festlichen Bachschen Pfingstkantate Nr. 172 Erschallet, ihr Lieder  heißt es im Eingangschor: Gott will sich die Seelen zu Tempeln bereiten. Diese Interpretation gibt einen Hinweis darauf, wie Gottes Gegenwart zu verstehen sein kann. Unsere Seelen als Gottes Tempel, eine naheliegende Interpretation, wird doch im christlichen Glauben besonders Wert auf die Beziehung Gottes zu den Menschen gelegt, die sich in den Beziehungen der Menschen untereinander spiegeln möge. In besonderer Weise wird dies in den Worten Jesu deutlich, wenn er von den letzten Tagen spricht, vom Weltgericht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Diese Gottesbeziehung wird also in erster Linie nicht dadurch deutlich, wie viel wir in den Klingelbeutel werfen, wie häufig wir beten oder regelmäßig wir in den Gottesdienst gehen. Das sind auch alles gute Taten und Eigenschaften. Aber es kommt vor allem darauf an, wie wir einander begegnen, wie wir uns behandeln, wie wir miteinander umgehen.

Wenn also der Tempel Gottes sich in unseren Seelen befindet, wenn diese Gottesbeziehung sich in der Beziehung von uns Menschen untereinander spiegelt, dann stellt sich doch die Frage, wie wir diesen Gottestempel, unsere Seele, nähren und gut behandeln können, damit das Verhältnis von uns Menschen untereinander nicht leidet, sondern – im Gegenteil – zum Guten gefördert wird.


Der heutige Sonntag ist für Chorsänger wie mich ein besonderer. Dabei gilt er in erster Linie eigentlich gar nicht der Kirchenmusik, die wird am 22. November, dem Gedenktag der Heiligen Cäcilia, Schutzpatronin von Orgel und Kirchenmusik, in besonderer Weise bedacht (was vermutlich kaum bekannt ist). Und dennoch ist die Tatsache, dass dieser Sonntag im Frühling liegt, im Erblühen der Natur, dass sein Titel eigentlich keine große Erklärung braucht, dass er im Imperativ, der Befehlsform, formuliert ist, so bedeutend: KantateSingt. Der Sonntag Kantate ist benannt nach dem Beginn des 98. Psalms, aus dem alten Gesangbuch der Bibel: Cantate Domino canticum novumSinget dem Herrn ein neues Lied Häufig dachte ich: was ist eigentlich am alten Lied schlecht? Versteckt sich hier gar ein Plädoyer fürs neue geistliche Liedgut?

Es lohnt sich, über die ersten Worte dieses Psalms nachzudenken.

SINGT/SINGET

Singen ist ein wenig aus der Mode gekommen; erst recht gemeinschaftliches, nichtsolistisches Singen. Dabei tut das so gut. Das gesungene Lob Gottes nährt unsere Seelen, es nährt Gottes Tempel. Habt ihr das schonmal erlebt, wenn ihr zum Eingang eines Gottesdienstes steht, wenn die Mitwirkenden einziehen, während ihr zur kräftig spielenden Orgel die folgenden Worte singt: Ach, wie wird an diesem Orte meine Seele fröhlich sein! Singen, diese intimste Form der Musik, weil sie nichts weiter benötigt als unsere Stimmen, erhebt unsere Seele auf ganz besondere Weise. Wie schädlich die Abwesenheit von Musik generell sein kann, erkannte auch der früherer Bundesinnenminister Otto Schily, als er im Jahre 2002 sagte: wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit. Das gilt sicherlich politisch, aber auch für unsere eigene innere Sicherheit. Unsere mentale Stabilität, unser Geist gerät in Gefahr, ohne Singen zu verkümmern. Ganz banal drückt es ein Kanon aus, den ich im Kinderchor lernte: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder. So ganz richtig ist das nicht. Gerade unsere deutsche Geschichte beweist, dass auch böse Menschen Lieder haben – Stichwort Horst-Wessels-Lied. Aber die Botschaft hinter dem Kanon ist doch die, dass Singen und Freude ganz dicht beieinander liegen, das sollte man sich immer wieder sagen oder sich auch gerne zusingen, auch wenn nur ein Bruchteil der Menschen etwa in Chören singt. Wenn wir in unsere Gesangbücher schauen, finden wir immer wieder diese Verbindung zwischen Seele, Gesang und Lob: Ich singe dir mit Herz und Mund (EG 324) oder Du, meine Seele, singe, wohlauf und singe schön dem welchen alle Dinge zu Dienst und Willen stehen (EG 302) sind nur zwei Beispiel, es gäbe so viele weitere Lieder.

Kann es da gut sein, nicht zu singen? Seit über einem Jahr sind unsere Stimmen in den Gottesdiensten, in den Chören und Gesangsensembles verstummt oder aufs Minimale reduziert. Nach dem Tod von Prinz Philip vor einigen Wochen wurde etwa in der Kathedrale von Carlisle in einem Gottesdienst die britische Hymne gesprochen. Wir werden besungen von Gesangsensembles und sind natürlich dankbar dafür, aber es ist für unsere Seelen eben nicht dasselbe. Ich kann über Epidemiologie nur wenig sagen, aber theologisch ist das zunächst selbst auferlegte und jetzt gesetzlich vorgeschriebene Singverbot in unseren Kirchen falsch, nein, es ist geradezu fahrlässig – und dieser Begriff ist vorsichtig gewählt. Unabhängig davon, wie man zur konkreten Gefahr der Virusausbreitung stehen mag: wenn ein Gesangsensemble mit Abstand sicher singen kann (und darf), verstehe ich nicht, warum genau das bei den Mitwirkenden in der Gemeinde verwerflich sein soll. Wir lesen von einer Zunahme von häuslicher Gewalt, von einer dramatischen Zunahme an psychischen Erkrankungen, die nicht selten in suizidalen Akten oder Versuchen münden, von einer immer aggressiveren Grundstimmung, kurz gesagt: wir sehen doch die immer gefährlicher werdende innere Sicherheit in uns und um uns herum und tragen doch unseren Beitrag dazu bei, indem wir unsere Stimmen stumm lassen. Das mag gesetzeskonform sein, aber ist es auch klug?

DEM HERRN

Wie schon erwähnt ist der christliche Glaube im Besonderen darauf bedacht, das Leben der Menschen untereinander zum Guten zu führen. Wir sind eben nicht nur darauf bedacht, am Ende unseres Lebens besonders gut dazustehen und auf all die guten Taten, die wir vollbracht haben, verweisen zu können, sondern unser Auftrag als Christen ist es doch, schon zu unseren Lebzeiten an diesem Gottesreich mitzuarbeiten, in dem Gerechtigkeit herrscht, in dem der Wert eines Menschen sich nicht am Kontostand bemisst, sondern jeder Menschen die unveräußerliche Würde besitzt, die ihm zusteht als von Gott gewolltes Wesen, als Bildnis des Guten, das wir Gott nennen. Es gibt doch so viele Bauanleitungen, wie wir Gott ehren können, indem wir unseren Nächsten ehren; Jesus sagt es etwa, ich ging auf diese Bibelzeilen vorhin schon ein: Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Da ist keine Bedingung enthalten – kein Beweis, dass man doch unschuldig hungrig oder durstig geworden war; da muss kein Nachweis erbracht werden, ob man nicht nackt geworden ist, weil man unvernünftigerweise sein ganzes Geld verprasst hatte und sich keine neue Kleidung mehr leisten konnte und erst recht musste nicht nachgewiesen werden, auf welche Weise man krank geworden ist und wie ansteckend man noch ist. Gott nähert sich uns als Benachteiligter, als vermeintlicher Verlierer. Unser Verhältnis zu Gott spiegelt sich eben darin wider, wie wir einander in dieser Situation begegnen. Wie offen sind unsere Arme unserem Nächsten gegenüber, wenn er nichts sehnlicher als eine Umarmung braucht?

Ich kann nicht sagen, ob die folgenden Worte eine Drohung enthalten sollen – persönlich ist das Bild des strafenden, drohenden Gottes sowieso nicht meins. Aber Jesus sagt eben auch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Ganz vorsichtig gesagt: wir können im Umgang miteinander auch gänzlich ungöttliche Verhaltensweisen an den Tag legen. Die Wahl ist immer unsere, dazu sind wir eben nach seinem Bild geschaffen. Was gottgleich ist und was nicht, ist jedoch nicht immer leicht zu erkennen, sodass wir häufig mit guten Absichten das Gegenteil von dem fördern, was gut ist. Ich hab es doch nur gut gemeint wird häufig unter Tränen des Bedauerns ausgesprochen.

EIN NEUES LIED

Warum muss es eigentlich ein neues Lied sein? Was ist an dem alten schlecht? Nun, in der deutschen Sprache kennen wir umgangssprachlich das alte Lied: immer dasselbe alte Lied, immer dieselbe alte Leier bezeichnet etwas Abgedroschenes, wenig Innovatives, etwas Ödes, Langweiliges, etwas, von dem kein Feuer ausgeht, keine Begeisterung. Da ist es doch nur recht, dem Gott, der uns hält, der uns trägt, der uns auffängt, wenn wir fallen, mit einem neuen Lied, mit Enthusiasmus zu begegnen! Warum? Weil wir in uns selbst dadurch neue Lebenskraft entfachen können. Hoffmann von Fallersleben beschreibt das auch aus weltlicher Sicht in seinem Gedicht Das Lied der Deutschen, dass – u. a. – Gesang uns zu edler Tat begeistern [soll] unser ganzes Leben lang. Diese Kraft, nein, diese Macht des neuen Liedes, kann nicht genug geschätzt werden. Das neue Lied ist aber auch sinnbildlich für eine neue Botschaft, die die alt vermuteten Grundsätze in den Schatten stellt. Die Bibel erwähnt diese Symbolik des Neuen immer und immer wieder – angefangen vom Schöpfungswunder, in dem beschrieben wird, wie etwas grundsätzlich Neues geschaffen. Im Neuen Testament finden sich die folgenden Worte des Paulus: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, […] Neues ist geworden. Und in der biblischen Endzeitbetrachtung, der Offenbarung des Johannes, ist von einem neuen Himmel, einer neuen Erde die Rede. Im griechischen Urtext steht dort, wo wir in der deutschen Übersetzung Offenbarung lesen, das Wort apokalypsis, von dem das eingedeutschte Wort Apokalypse entstammt. Denken wir an die Apokalypse, fallen uns Bilder ein, die wir aus Filmen von Roland Emmerich kennen, der eine besondere Begeisterung dafür entwickelte, die Erde auf verschiedene Weisen untergehen zu lassen – sei es der Meteoriteneinschlag, der dazu führte, dass die Meere weite Teile des bewohnten Landes überschwemmten oder doch nur die Alieninvasion, die die Menschheit ausrotten wollte. Dabei bedeutet apokalypsis übersetzt einfach nur Enthüllung oder Entschleierung. Das Neue enthüllt und entschleiert das Verborgene, das zuvor Unbekannte. So etwas kann natürlich verstören und so sollten auch wir uns selbst fragen, wie wir – immer noch erschaffen nach Gottes Ebenbild – auf solche Neuigkeiten, vorgetragen z. B. durch neue Lieder – reagieren. Sind wir offen für Veränderungen? Begegnen wir neuen Erkenntnissen mit Neugier oder mit Ablehnung? Was macht es mit uns, wenn wir aus unserer geistigen Komfortzone herausgerissen werden?

Stellt dir vor, dass es dunkel um dich herum ist – sprichwörtlich und tatsächlich. Die Jalousien tagelang nicht hochgezogen, Frühstück nicht vor 16 Uhr, irgendwie die Tage rumgebracht. Tagein, tagaus, trostlos.  So ähnlich, wie Chima es in seinem Lied Morgen beschreibt:

Ich zieh‘ die Decke übern Kopf
Der Tag zieht an mir vorbei
Die Sonne lacht durchs Fenster
Mein Arsch ist schwer wie Blei
Vögel zwitschern Melodien
Haben wir wirklich schon nach drei?
[…]
Alle haben Ziele
Machen ihr Ding
Was ist mit mir?

Morgen bin ich wieder dabei
Und morgen sind die Ausreden vorbei
Morgen, weil ich heut‘ nicht kann
Morgen fang‘ ich von vorne an
Morgen nehm‘ ich mein Leben in die Hand
Erst morgen, aber dann richtig, Mann
Morgen, wenn nicht morgen
Wann denn dann?

Das ist das alte Lied. Das ist das, was dich niederdrückt. Stell dir vor, dass du in dieser Situation, du weißt nicht wie, dich aufraffst und dorthin gehst, wo du eigentlich als Letztes hingehen würdest, in eine Kirche. Aber so ein Gottesdienst ist halt auch eine Art, den (Sonn-)Tag zu füllen. In diesem Gottesdienst hörst du eine alte Melodie, aber doch berührend. Du singst zu ihr die Worte Paul Gerhardts mit:

Soll ich meinem Gott nicht singen?
Sollt ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh‘ in allen Dingen,
wie so gut er’s mit mir meint.
Ist doch nichts als lauter Lieben,
das sein treues Herze regt,
das ohne Ende hebt und trägt,
die in seinem Dienst sich üben.

Meiner Seele Wohlergehen
hat er ja wohl recht bedacht;
will dem Leibe Not entstehen,
nimmt er’s gleichfalls wohl in acht.
Wenn mein Können, mein Vermögen
nichts vermag, nichts helfen kann,
kommt mein Gott und hebt mir an
sein Vermögen beizulegen.

Beim Rausgehen aus der Kirche siehst du plötzlich, wie grün die Natur geworden ist, wie die Vögel zwitschern, das Lächeln von Menschen nimmst du wahr. Dir kommt die weitere Strophe dieses Liedes in den Sinn, das ihr gesungen habt:

Himmel, Erd und ihre Heere
hat er mir zum Dienst bestellt;
wo ich nur mein Aug hinkehre,
find ich, was mich nährt und hält:
Tier und Kräuter und Getreide;
in den Gründen, in der Höh,
in den Büschen, in der See,
überall ist meine Weide.

Und während du das erste Mal seit Monaten das Lachen der Menschen um dich herum als Bereicherung erlebst, fallen dir die Worte ein, die zum Abschluss jeder Strophe gesungen wurden: „Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Und du grübelst darüber nach, ob da nicht was dran sein kann. Diese alte Melodie – sie ist dir zum neuen Lied geworden, das dich eine neue Leichtigkeit spüren lässt, die du schon vergessen hattest.

Das ist natürlich ein fiktives Beispiel und ich möchte damit auch nicht sagen, dass sich eine schwere Depression durch das Singen von drei Strophen des Liedes Nr. 325 aus dem Evangelischen Gesangbuch heilen lässt. Aber wir brauchen das gemeinschaftliche Singen. Es ist wichtig, Worten wie Meiner Seele Wohlergehen hat er ja wohl recht bedacht eine Melodie zu geben und dieser Melodie unsere Stimmen zu leihen. Es mag eine nur eine Korrelation sein, aber in unserer Gesellschaft nehmen psychische Krankheiten immer weiter zu. Gleichzeitig singen immer weniger Menschen zusammen in Chören und Gesangsensembles.


Es gibt eben doch diesen Ort, an dem wir Gottes Gegenwart spüren und erahnen können, an dem wir die Tiefe unseres Glauben vielleicht nicht beweisen, aber erlebbar machen können. Im Singen erleben wir in, durch und mit unserer Seele die Größe dieses Gottes, der uns Stimmen gegeben hat, der erlebbar wird im musikalischen Lob, durch das wir einen neuen, tieferen Zugang erhalten zum Sinn des Lebens. Viele Menschen erleben erst in der Musik, im Singen den Zugang zu Gott. Ohne Jauchzen und Frohlocken kann für sie kein Weihnachten sein und ohne Weihnachten gibt es kein Jauchzen und Frohlocken. Diesen Kreislauf des Lobens und des Preisens gilt es zu erhalten.

Wer das Verbot gemeinschaftlichen Singens als sinnvollen Teil einer Art Vollkasko-Lebensversicherung betrachtet, wer Kritik an diesem Verbot als verschwörungstheoretische Schwurbelei diskriminiert, hat vielleicht einfach jenen Segen noch nicht erlebt, der in dieser göttlichen Gabe steckt. Oder ihn schon wieder vergessen.

Die uns über zwei Jahrtausende überlieferte Botschaft ist eine andere. Sie enthält keinen Pandemievorbehalt. Vielleicht ist es aus heutiger virologisch-epidemiologischer Sicht besser, nicht gemeinsam zu singen. Aber es gibt auch noch jene Gesundheit, deren Abwesenheit sich nicht mit PCR- und Antigen-Tests feststellen lässt, die Gesundheit unserer Seelen. Diese Gesundheit leidet durch unser Stummsein. Und wir brauchen, weiß Gott, keine Epidemie der verkümmerten Seelen, sonst gefährden wir jene innere Sicherheit, jenen inneren Frieden, der von Gott kommt, dessen Tempel sich in unseren Seelen befindet. Sein Friede ist eben höher als all das, was wir je lernen, begreifen und verstehen könnten. Er bewahrt unsere Herzen und Sinne durch seinen Sohn, Jesus von Nazareth, den wir den Christus nennen.