Gedanken zu den Lesungen des 2. Sonntag im Advent

Was für ein Ausspruch, liebe Adventsgemeinde von Borstel, was für ein Ausspruch: „Himmel und Erde werden vergehen – aber meine Worte vergehen nicht.“ Solche Aussprüche bedürfen eines Anlasses. Eines großen Anlasses. Ich bitte Sie – parken Sie diesen Gedanken kurz.

Vor einigen Jahren war ich in einem Adventsgottesdienst, in dem der Pfarrer in seiner Predigt von der Apokalypse des Advents sprach. Apokalypse? Advent? Diese besinnliche, aber leider auch manchmal zu laute, hektische Zeit? Vorbereitung auf Weihnachten, Glühwein, Plätzchen backen, Wohnungen und Häuser dekorieren, jedes zweite Essen schmeckt irgendwie nach Zimt? Adventslieder, die von der Geburt Jesu erzählen, mal freudvoll, mal besinnlich, „Tochter Zion“, „Macht hoch die Tür“, von mir aus auch die „Weihnachtsbäckerei“ – Apokalypse?

Tatsächlich ist es so, dass die Lesungen der vier Sonntage im Advent nicht etwa die letzten vier Wochen der Schwangerschaft Mariens beschreiben. Am 1. Advent hören wir als Evangelium die Geschichte des Einzugs Jesu in Jerusalem – also die Palmsonntagsgeschichte. Das hat wenig mit weihnachtlicher Vorfreude zu tun. Und wenn wir heute Jesu Worte hören und darüber nachdenken, dann sind auch diese Worte, die der Evangelist Lukas aufgeschrieben hat, unmittelbar vor dem Verrat Jesu durch Judas zu finden. Die Hinrichtung Jesu hatte für seine Anhänger durchaus eine apokalyptische Dimension. „Himmel und Erde werden vergehen – aber meine Worte vergehen nicht“ – das sind Worte des Abschieds.

Erinnern Sie sich noch an den geparkten Gedanken? Solch salbungsvollen Worte benötigen einen Anlass. Gut.

Was für ein Anlass haben wir in der alttestamentarischen Lesung gehört? Verzweiflung. Pure Verzweiflung. Wie verzweifelt muss der Autor dieser Zeilen gewesen sein. „So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung.“ – Der Himmel möge zerreißen, die Berge mögen zerfließen, man stelle sich das einmal vor, das ist mehr als das, was Anfang der 2000er Jahre geschah als die Elbe über die Ufer trat, das ist mehr als die Zerstörung, die wir dieses Jahr im Ahrtal gesehen haben. Das ist eindeutig Apokalypse! Wahrhaftige Endzeitstimmung. Und warum? Damit Gottes Name kundwürde und seine Feinde erzitterten, weil Gott so gut ist, so gut wie noch kein Ohr gehört und kein Auge gesehen hat? Zunächst ein Rätsel – warum das dem anonymen Schreiber so wichtig ist. Gott, ja, wenn ihm das wichtig wäre – aber er ist es nicht, der diesen Anspruch stellt.

Ich bewundere diese Dialogfähigkeit des Alten Testaments. Gleichwohl Gott als göttlich behandeln und dennoch die Auseinandersetzung nicht zu scheuen, Forderungen zu stellen, bei aller Ehrfurcht.

Von Gottes großer Güte zu erzählen, seinen Namen kund werden zu lassen, das hat für unseren Verfasser der alttestamentlichen Lesung eine überragendeBedeutung, ein bisschen so, wie wenn wir einen unserer Meinung nach großartigen Gedanken haben, den wir unbedingt verbreiten müssen, Ehepartner, Freunde. Unser Autor ist der festen Überzeugung: Wie gerecht könnte die Welt gestaltet werden, wenn sich die Menschen zum Gott Israels bekennen würden – der so wohltut allen, die auf ihn harren.

Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn er diese Worte gekannt hätte: „seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ „Sieh auf, erhebe dein Haupt, weil sich deine Erlösung naht.“ Aber zwischen unserem Text aus dem Alten Testament und den Worten Jesu liegen schätzungsweise über 500 Jahre. Aber diese Ungeduld, diese Verzweiflung, die ist doch nachvollziehbar. Gehen wir mal davon aus, dass dem verzweifelten Schreiber die Worte des Propheten Jesaja bekannt waren: „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Er wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein.“ Diese Friedensvision, diese Gerechtigkeitsvision – sie scheint in so ferner Zukunft zu liegen, daher: große Verzweiflung. Große Worte.

Da ist unser Evangelium wie eine Antwort: „es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen.“ – Das ist eine direkte Antwort auf das Flehen aus dem Alten Testament, auf den Wunsch, die Forderung, dass der Himmel zerreißen und die Berge zerfließen mögen. Wir stimmten vorhin in dieses Klagen, in dieses Flehen mit ein, erinnern Sie sich? O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf.“ So brav diese Melodie auch ist – das ist Revolution! Dagegen ist der Text von „Macht hoch die Tür“ regelrecht artig. Aber hier – Anklage, Revolution, Flehen, Forderungen, alles in einem.

Was hat das nun alles mit uns zu tun, in der heutigen Zeit. Wie sollte es anders sein – eine ganze Menge. Denn was im Großen gilt – die vermeintliche Abwesenheit Gottes im Bewusstsein der Menschen – gilt auch für uns persönlich. Verzweiflung, Klage, das ist uns doch nicht fremd! Endzeitstimmung auf Grund verschiedenster Einflüsse, politisch wie privat. Unsere eigenen, nur scheinbar kleinen Verzweiflungen sind keine Banalitäten! Sie quälen uns und indem wir sie klein machen („es ist doch nur …“), nein, dadurch wird es in der Regel nur noch schlimmer. Der Anruf, den ich mich nicht traue zu machen mit einem Freund nach einem Streit. Das Kind, das ich schon so lange nicht mehr gesehen habe, das ich vermisse. Das Geld, an dessen Ende noch so viel Monat übrig ist. Den Menschen, der aus dem Leben geschieden ist, dieses Loch, das er gerissen hat, dass sich einfach nicht füllen will.

Immer wieder empfinden Menschen die Abwesenheit von Gerechtigkeit und wie wohltuend sind da Jesu Worte: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ Das sind keine leeren Worte. So unkonkret sie sein mögen – so wahrhaftig sind sie. Der Mann spricht diese Worte kurz vor seiner Hinrichtung. 

„Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar.“ Dietrich Bonhoeffer, weniger als ein halbes Jahr vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten. Auch unkonkret, aber mit so viel Gehalt.

Es ist diese Ermutigung, die wir benötigen. Es ist diese Ermutigung, die die Menschen einer Stadt benötigten, als ein 46-jähriger amerikanischer Präsident ihnen zusprach: „Ich bin ein Berliner.“

Es ist diese Ermutigung, wenn ein schnurrbärtiger Liedermacher und Lyriker den in den Begrenzungen der Unfreiheit und den Grenzen ihres Landes eingesperrten Bürgern zusingt: „Du lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.“

Aber es gilt auch: „Seht auf und erhebt eure Häupter damit sich eure Erlösung naht.“ Der gesenkte Kopf mag in Situationen die einzig erträgliche Haltung sein. Aber mit ihm schaut man weder nach vorne noch einander an. Im eben erwähnten Lied „Ermutigung“ heißt es etwa weiter: „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit. Du kannst nicht untertauchen, du brauchst uns und wir brauchen grad deine Heiterkeit.“

Die schwerste Übung versteckt sich in den drei Sätzen unser sehr kurzen Epistellesung. Wann geschieht das denn alles? Haupt gehoben, Verzweiflung eingeordnet, bereit für meine Erlösung, die sich doch naht? „Seid geduldig, wie der Bauer, der sein Getreide auch nicht schneller ernten könnte, wenn er am Halm zöge.“ Diese vermutlich schwerste Übung ist typisch adventlich. Warten. Geduld.

Was nehmen wir also aus diesen Erkenntnissen mit? Leider nichts Konkretes, keine drei Schritte, die ich tun müsste für ein erfüllteres Leben und keine fünf Dinge, die ich für mehr Zufriedenheit einkaufen könnte.

Aber eine Haltung:
1. Verzweiflung ist berechtigt.
2. Das Leben ist nie hoffnungslos.
3. Auch, wenn’s schwerfällt: nicht verzagen. Geduld. Optimismus.

Wenn wir es schaffen würden, diese drei Dinge wirklich zu beherzigen, sähe unser Leben definitiv nicht apokalyptisch aus, sondern bewegte sich in Richtung eines inneren und äußeren Friedens, der höher ist als das, was wir je begreifen und verstehen könnten. Er ist höher als das, was ein Auge je gespürt, ein Ohr je gehört hat – solche Freude. Dieser Frieden bewahre unsere Herzen und Gedanken in Jesus, den wir den Christus nennen.

Amen.

Eine Antwort auf „Gedanken zu den Lesungen des 2. Sonntag im Advent“

  1. Wunderschön, wenn auch für meinen Geschmack sehr viele Zitate.
    Hoffentlich schaffst du es morgen, den langen Text mit der Ruhe und in so langsamem Tempo vorzutragen, dass alle mitkommen.
    Ist schon ganz schön anspruchsvoll – und das C-Wort kommt glücklicherweise nicht vor.
    Geduld und Zuversicht – das ist es, was wir brauchen. Danke!

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